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Jean-Paul Sartre "Unaufrichtigkeit und Lüge" (aus "Das Sein und das Nichts")
Oft setzt man die Unaufrichtigkeit mit der Lüge gleich. Ohne zu unterscheiden, sagt man von einer Person, sie sei unaufrichtig oder sie belüge sich selbst. Wir stimmen zwar zu, dass die Unaufrichtigkeit ein Sich-selbst-Belügen ist, sofern nur das Sich-selbst-Belügen vom Lügen schlechthin unterschieden wird. Die Lüge ist eine negative Haltung, das wird man zugeben. Aber diese Negation betrifft nicht das Bewusstsein selbst, sie zielt nur auf das Transzendente. Das Wesen der Lüge impliziert ja, dass der Lügner über die Wahrheit, die er entstellt, vollständig im Bilde ist. Man lügt nicht über das, was man nicht weiß, man lügt nicht, wenn man einen Irrtum verbreitet, dem man selbst erliegt, man lügt nicht, wenn man sich irrt. Das Ideal des Lügners wäre also ein zynisches Bewusstsein, das an sich die Wahrheit behauptet, sie in seinen Worten verneint und für sich selbst diese Negation verneint.
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Aber die Lüge ist ja ein normales Phänomen dessen, was Heidegger "Mitsein" nennt. Sie setzt meine Existenz voraus, die Existenz des Anderen, meine Existenz für den Anderen und die Existenz des Anderen für mich. So begreift man unschwer, dass der Lügner in aller Klarheit den Entwurf der Lüge machen und ein vollkommenes Verständnis der Lüge und der Wahrheit, die er verändert, haben muss. Es genügt, dass eine prinzipielle Opazität dem Andern seine Absichten verbirgt, es genügt, dass der Andere die Lüge für die Wahrheit halten kann. Durch die Lüge behauptet das Bewusstsein, dass es von Natur aus als dem Andern verborgen existiert, es profitiert von der ontologischen Dualität des Ich und des Ich des Andern.
Das kann für die Unaufrichtigkeit nicht gelten, wenn diese, wie wir gesagt haben, wirklich ein Sich-selbst-Belügen ist. Bei der Unaufrichtigkeit geht es zwar auch darum, eine unangenehme Wahrheit zu verbergen oder einen angenehmen Irrtum als Wahrheit hinzustellen. Die Unaufrichtigkeit hat also scheinbar die Struktur der Lüge. Aber alles ist dadurch verändert, dass ich in der Unaufrichtigkeit mir selbst die Wahrheit verberge. Daher gibt es hier keine Dualität von Täuscher und Getäuschtem. Die Unaufrichtigkeit impliziert im Gegenteil ihrem Wesen nach die Einheit eines Bewusstseins. Das bedeutet nicht, dass sie nicht durch das "Mitsein" bedingt sein kann, wie übrigens alle Phänomene der menschlichen Realität, aber das "Mitsein" kann nur dann Unaufrichtigkeit hervorrufen, wenn es sich als eine Situation darbietet, die durch Unaufrichtigkeit überschritten werden kann; die Unaufrichtigkeit kommt nicht von außen zur menschlichen Realität. Man erleidet seine Unaufrichtigkeit nicht, man wird nicht von ihr infiziert, sie ist kein Zustand. Sondern das Bewusstsein affiziert sich selbst mit Unaufrichtigkeit. Es bedarf einer primären Intention und eines Unaufrichtigkeitsentwurfs; dieser Entwurf impliziert ein Verständnis der Unaufrichtigkeit als solcher und ein präreflexives Erfassen von dem Bewusstsein, dass es sich in Unaufrichtigkeit verwirklicht.
Daraus folgt zunächst, dass der, den man belügt, und der, der lügt, ein und dieselbe Person sind, was bedeutet, dass ich als Täuschender die Wahrheit kennen muss, die mir als Getäuschtem verborgen ist. Mehr noch, ich muss diese Wahrheit sehr genau kennen, um sie sorgfältiger vor mir verstecken zu können - und zwar nicht in zwei verschiedenen Momenten der Zeitlichkeit, wodurch sich zur Not ein Anschein von Dualität wiederherstellen ließe, sondern - in der vereinigenden Struktur ein und desselben Entwurfs. Wie kann also die Lüge bestehen, wenn die Dualität, die sie bedingt, aufgehoben ist? Zu dieser Schwierigkeit kommt eine andere, die von der totalen Transluzidität des Bewusstseins herrührt. Wer sich mit Unaufrichtigkeit affiziert, muss Bewusstsein von seiner Unaufrichtigkeit haben, weil ja das Sein des Bewusstseins Seinsbewusstsein ist. Ich muss also offenbar wenigstens darin aufrichtig sein, dass ich mir meiner Unaufrichtigkeit bewusst bin. Dann aber vernichtet sich dieses ganze psychische System. Denn man wird zugeben, dass, wenn ich absichtlich und zynisch versuche mich zu belügen, ich bei diesem Unternehmen vollkommen scheitere, die Lüge zurückweicht und sich unter meinem Blick auflöst; sie wird von hinten zerstört, eben durch das Bewusstsein mich zu belügen, das sich unbarmherzig diesseits meines Entwurfs als eben seine Bedingung konstituiert.
Hier liegt ein verschwimmendes Phänomen vor, das nur in seiner eigenen Unterschiedenheit und durch sie existiert. Solche Phänomene sind zwar häufig, und wir werden sehen, dass es tatsächlich ein "Verschwimmen" der Unaufrichtigkeit gibt, es ist evident, dass sie ständig zwischen Aufrichtigkeit und Zynismus hin und her schwankt. Aber wenn auch die Existenz der Unaufrichtigkeit sehr prekär ist, wenn sie zu jener Art psychischer Strukturen gehört, die man "metastabil" nennen könnte, so hat sie doch nichtsdestoweniger eine autonome und dauerhafte Form; sie kann sogar für eine sehr große Zahl von Personen der normale Aspekt des Lebens sein. Man kann in der Unaufrichtigkeit leben, was nicht heißen soll, dass man keine plötzlichen Anfälle von Zynismus oder Aufrichtigkeit hat, was aber doch einen konstanten und besonderen Lebensstil impliziert. Unsere Verlegenheit scheint also außerordentlich groß zu sein, weil wir ja die Unaufrichtigkeit weder abstreiten noch verstehen können.
Übersetzung: Hans Schöneberg und Traugott König
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